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Weltpremiere: Ungarischer Präsident setzt Blindenschrift auf seiner Website ein

In miscellaneous on 08/06/2012 at 12:57

Social Media und zwonullige Webservices sind neuerdings auch unter Politikern der letzte Schrei: Selbst analoge Schwergewichte wie Sigmar Gabriel machen es mittlerweile dem frischgebackenen Umweltminister und digitalen Parlamentsklassensprecher Peter Altmaier nach und bemühen sich, in 140 Zeichen rhetorisch zu brillieren – grundsätzlich sicher eine sehr sinnvolle Übung für viele Politiker. Einen Schritt weiter geht Ungarns erster Mann im Staate und neuer Präsident János Áder: Er setzt sich für die barrierefreie Nutzung seiner Internetangebote für Wähler mit reduzierter Sehstärke ein. Da Bildschirmlupe und automatischer Vorleseservice eines Digital Political Natives kaum mehr würdig zu sein scheinen, führt Áder nun die Blindenschrift Braille auf seiner Website ein.

Für die meisten Menschen ist Braille eine völlig unverständliche Anordnung erhabener Punkte, die für Blinde aber eine unschätzbare schriftliche Orientierungsform bietet: Sie ertasten die Reihenfolge und Platzierung der Buchstabensubstitute und lesen den Text. Richtig: Sie tasten. Auf einer Website. Am Bildschirm. Hier ein Original-Screenshot (Klick zum Vergrößern, Hervorhebung von stenographique):

Damit hat Áder entweder

  1. furchtbar schlechte Berater, die körperlich Benachteiligte Bürger als potenzielle Wählergruppe umgarnen wollen,
  2. heimlich eine strukturverändernde Innovation in der digitalen Visualisierungstechnologie im ungarischen Bergland zur Marktreife gebracht,
  3. Webdesigner, die zu viel Zeit in nerdigen Foren verbracht und sich ohne sein Wissen einen ganz speziellen Humor angeeignet haben oder
  4. sich gedacht, die Blinden können’s ja sowieso nicht lesen und zwischen zwei Pils einen Blinden-Witz in Braille verfasst.

Es darf mitgeraten und abgestimmt werden. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen, ein Telefonjoker ebenfalls. Zu gewinnen gibt es Ruhm und Ehre und einen Braille-Kurs mit János Áder – Interesse des ungarischen Präsidenten vorausgesetzt. Für weitere Erklärungen und Lösungsvorschläge steht das Kommentarfeld wie gewohnt zur Verfügung.

Die gute Nachricht: Wer verzweifelt versucht hat, mit geschlossenen Augen das aktuelle politische Pamphlet auf der Homepage von János Áder zu lesen und trotz profunder Ungarisch-Kenntnisse gescheitert ist, dem sei gesagt: Es liegt nicht an dir. Áder ist offensichtlich ein Mann mit Visionen – einen haptischen 3D-Bildschirm kann er aus deinem alten Röhrenmonitor aber auch nicht zaubern.

via 10minutesaperdre / spiegeloffline

  1. Tactus Technology hat so was doch schon längst im Programm. Laut Heise.de und anderen wird durch eine „micro-fluid“-technik eine Membran mit Öl gefüllt und so eine spürbare Erhebung in der Oberfläche des Bildschirms erzeugt. Momentan sollen damit nur Tasten erzeugt werden, eignet sich aber sich auch für Braille. Siehe entsprechenden Artikel auf Heise.de

    http://www.heise.de/newsticker/meldung/Touchscreen-mit-echten-Tasten-1612861.html

    • Danke für den interessanten Link, Michael!
      War mir in der Tat nicht bekannt. Viel wichtiger aber die Frage: Glaubst du, dass Herr Präsident die Innovation von Tactus auch im Kopf hatte, als er die Braille-Schrift auf seine HP gesetzt hat? 😉

  2. Eine Liste mit Barrierefreien Apps gibt es hier für iOS.

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